Lieber Obdachloser,
leider kenne ich deinen Namen gar nicht und weiß auch nicht, ob du jemals auf diese Seite schauen wirst, ich möchte dir aber dennoch schreiben, weil mich unser Treffen vor einigen Tagen so berührt hat und mir wichtige Erkenntnisse geschenkt hat.
Seit vielen Jahren mache ich mir immer wieder Gedanken darüber, ob ich Obdachlosen Geld geben sollte oder nicht. Früher wollte ich immer und überall spenden, wollte Patenkinder in Afrika haben und helfen wo ich konnte, vor allem auch mit Geld.
Als ich älter wurde und viel allein oder zu zweit mit großem Rucksack durch die verschiedensten, oft auch ärmeren Länder gereist bin, hat sich mein Bild dazu sehr verändert. Langsam wurde mir klar, dass ich damit nicht wirklich helfe. Wenn ich meine Erinnerung an die Kinder in Südamerika anschaue, die den Touristen hinterher rennen, um von diesen Geld oder Süßigkeiten zu bekommen, werde ich traurig und fühle mich beklemmt. Natürlich wirken die Kinder glücklich in diesem Moment. Doch ich frage mich mittlerweile, ob sie das jemals wirklich glücklich machen kann - ihr Leben zu leben, in dem sie so leben wollen wie wir, ihre Werte und Traditionen vergessen und uns Menschen aus den Industrieländern anhimmeln, nach Geld betteln und uns als Götter ansehen.
Ist es nicht wichtiger, dass sie ihr Leben selbst gestalten? Mit dem was vorhanden ist, was sie glücklich macht und was sie gut können? Ist es nicht für alle wichtiger und sinnvoller, wenn sie das Göttliche und Wertvolle in sich selbst und ihrem Land erkennen?
Ja, es geht uns gut. Ja, wir leben in einem Paradies. Doch hier und da auch nur scheinbar. Sehnen wir Menschen aus den Industrieländern uns innerlich nicht doch immer mehr wieder nach Einfachheit, Wahrheit, Gemeinschaft und Glücklichsein? Letztendlich wollen von uns doch auch immer mehr wieder „zurück“ zu diesem ursprünglichen Leben.
Ich fühle mich wohl, wo ich lebe, liebe Deutschland, unsere Kultur und unsere Art zu leben und dennoch ist mir bewusst, dass sich Vieles ändern kann und muss, damit wir alle glücklicher und friedvoller miteinander leben können. Ich will also verändern, helfen. Das will ich hier, aber auch unterwegs tun. Ich wünsche mir, dass alle selbstbestimmt leben können. Ich wünsche mir, dass jeder das leben kann was er gut kann, wofür er hier ist, denn dann ist ja jeder zufrieden und fühlt sich wertgeschätzt. So gelingt Frieden.
Ich habe also aufgehört diesen Kindern etwas zu geben.
Ich habe auch aufgehört Obdachlosen etwas zu geben, es sei denn, sie machen etwas Besonderes, um Geld zu bekommen.
Ich gebe noch immer gern Geld, auch Künstlern auf der Straße, weil sie den Tag für Viele, die durch die Straßen hetzen, abwechslungsreicher, fröhlicher und besinnlicher machen.
Darüber nachdenken werden nämlich fast alle, unwichtig erst einmal welche Meinung sie sich am Ende darüber bilden.
Somit tragen natürlich auch Obdachlose mit ihrer Art zu leben dazu bei, dass wir aufmerksamer werden, bewusster und dankbarer leben. Außerdem bekommen wir die Chance zu helfen.
Doch ist ihnen am Ende mit Geld wirklich geholfen? Kurzfristig ja, langfristig nein. Ich glaube zumindest nicht nur mit Geld, sondern auch mit anderer Unterstützung.
Oft habe ich mir in den letzten Monaten vorgenommen hier und da mit Obdachlosen zu sprechen, um zu erfahren weshalb sie auf der Straße leben, was ihre Wünsche sind, was sie so den ganzen Tag tun und welchen Herausforderungen, aber auch Freuden sie jeden Tag begegnen.
Nun habe ich dich getroffen. Dein Äußeres war so gepflegt und strahlend. Gar kein typisches Erscheinungsbild eines Obdachlosen. Ich hatte wirklich kein Kleingeld. Wahrscheinlich hätte ich dir aber auch so keines gegeben. Mir war es wichtig mich mit dir zu unterhalten. Das erste Mal konnte ich mich spontan und gelassen mit einem Obdachlosen unterhalten. Wow. Das hat mich so sehr gefreut. Etwa eine halbe Stunde haben wir miteinander gesprochen. Ich habe so viel erfahren: Über dich und deine Geschichte sowie dein tägliches Leben jetzt, aber auch über mich selbst. Die Einzelheiten sind nun gar nicht mehr so wichtig und doch habe ich mir fast alles gemerkt. Es hat meinen Horizont wieder ein Stück erweitert und mir die Augen geöffnet. Ich habe verschiedene Seiten und Gesichter der Obdachlosigkeit kennengelernt. Ich habe dich ein wenig kennengelernt. Was mir die ganze Zeit auffiel: Du hast so sauber und ordentlich gewirkt, du hattest eine klare und liebevolle Ausstrahlung. Ich konnte die ganze Zeit so viel Schönheit, Einzigartigkeit und Potenzial in dir erkennen. Das habe ich auch versucht dir zu sagen. Vielleicht ist es mir ja an manchen Stellen gelungen.
An diesem Punkt habe ich erkannt, dass es wertvoller für mich ist jemandem in dem zu unterstützen was er ist und ihm damit Hilfe zu bieten, als einfach nur einen Euro hinzugeben ohne zu wissen weshalb und wofür. Mir ist natürlich auch bewusst, dass du deinen Anteil an der jetzigen Situation hast und an manchen Stellen möglicherweise zu verschlossen bist oder auf Krampf gegen das System kämpfst. Dennoch sehe ich deinen Mut, deine Stärke, deinen Wunsch nach Liebe und Frieden.
Das war ein Geschenk für mich: Zu erkennen, dass wir letztendlich an derselben Stelle stehen, dass wir im Grunde dasselbe wollen. Liebe, Licht, Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung. Auch ich passe gerade in kein Schema dieses Systems, auch ich möchte gern so viel verändern, von Grund auf verändern. Doch ich habe in den letzten Jahren für mich gelernt, dass ich das nur kann, wenn ich in meiner eigenen Kraft bin, wenn ich das tue, was mir gefällt, womit ich mich wohl fühle und was ich mir für die Welt wünsche.
Genau wie du.
Du hast dich dafür entschieden auf der Straße oder im Wald zu leben. Du hast dich dafür entschieden nicht mehr mitzumachen, dir nicht einfach alles gefallen zu lassen und dich wie ein Sklave zu fühlen. Du behältst deine Würde, du lebst selbstbestimmt. Danke dir dafür.
Dennoch frage ich mich wie abhängig dich das betteln letztendlich doch macht. Natürlich ist es auch eine Form von Arbeit. Doch ist es wirklich das was du tun willst? Schlummert da nicht noch mehr in dir, was gezeigt und gesehen werden will?
Ich bin mir ganz sicher. Vielleicht entschließt du dich ja doch irgendwann deine Geschichte zu erzählen. Ich interessiere mich dafür. Ganz sicher auch andere.
So oder so hast du mich berührt. Die für mich wichtigsten Erkenntnisse waren Folgende:
- Wir sind alle gleich. Tief in uns drin wollen wir alle dasselbe: Liebe, Frieden, Freude, Glück, Wertschätzung, Anerkennung, Gemeinschaft. Egal, ob ganz reich oder ganz arm, egal wo und egal wie, wir wollen gern wir selbst sein, etwas Sinnvolles tun, wertvoll sein, anderen etwas geben.
- Wenn ich Ideen habe und wenn ich daran glaube, dass ich mit meinem Wissen und meinen Ideen die Welt ein wenig glücklicher, bewusster, liebe- und friedvoller machen kann, so schaffe ich dies für mich persönlich nicht, in dem ich weiterhin in meiner Ecke sitze und vor mich hin lebe (obwohl ich das wirklich manchmal gern möchte), sondern viel mehr, indem ich mich zeige, andere daran erinnere und anderen helfe wieder in ihre Kraft und Freude zu kommen.
Ich bin mir ganz sicher, wir werden uns beide noch lange an dieses Treffen und dieses Gespräch erinnern. Ich danke dir so sehr für deine Offenheit und dein Sein. Wer weiß schon wo und wann wir uns dann wiedersehen. Wer weiß wohin uns dieses Gespräch nun wieder führt.
Ich danke dir von Herzen und wünsche dir alles alles Liebe und Gute.
In Liebe und Verbundenheit,
Kristin
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